Montag, 3. Dezember 2012

Sieht so auch Merkels Jobwunder aus ?


USA: In vier einfachen Schritten zum „Dritte-Welt“-Land

von THOM HARTMANN und SAM SACKS, 14. November 2012 -

Jüngste Berichte, denen zufolge der taiwanesische Konzern Foxconn Fabriken in den USA errichten will, verdeutlichen, dass das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ nun in die vierte Phase eines Prozesses eingetreten ist, den man als eine „Rekolonialisierung“ bezeichnen könnte, der die USA wirtschaftlich auf einen „Dritte-Welt“-Status degradiert.

Foxconn ist Chinas größter privater Arbeitgeber und produziert Bestandteile von Apple iPhones, iPads und iPods.

War der verstorbene Apple-Mitbegründer Steven Jobs möglicherweise ein großer Visionär, was technologisches Design betrifft, so war er ganz gewiss kein Anhänger von Gewerkschaften – oder US-amerikanischen Arbeitern generell. Er verlagerte den Großteil der Produktion seines Unternehmens zum Foxconn-Konzern, der für seine Niedriglöhne berüchtigt war. 

Foxconns Arbeiter hausen in überfüllten Schlafsälen, die sich auf dem Werksgelände befinden. Sie arbeiten in 12-Stunden-Schichten und sind üblicherweise gefährlichen Bedingungen ausgesetzt. Jüngst erkrankten 137 Arbeiter, nachdem sie iPads mit giftigen Chemikalien reinigen mussten. In den letzten fünf Jahren haben sich 17 Foxconn-Beschäftigte während der Arbeit das Leben genommen. Netze wurden rund um das Werk installiert, um jene Arbeiter aufzufangen, die aus den Fenstern springen.

Warum nur verlässt Foxconn sein libertäres Paradies, in dem es keine Arbeitsgesetze gibt, und geht in die USA?

Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Verständnis der vier Phasen notwendig, die die USA gegenwärtig im Eiltempo durchlaufen, um wirtschaftlich ein „Dritte-Welt“-Land zu werden.

Schritt Eins: Die Zerstörung der Industrie

Von 1791 an, als der erste Finanzminister der USA, Alexander Hamilton, einen 11-Punkte-Plan für die amerikanische Industrie verfasste, bis noch vor wenigen Jahrzehnten, schützten die Vereinigten Staaten die Grundlagen ihrer Produktion durch hohe Importzölle und die staatliche Unterstützung der einheimischen Industrie. Durch dieses „protektionistische“ Vorgehen im Handel entwickelten sich die USA zum weltgrößten Exporteur von Industrieprodukten. Daraus entwickelte sich nachhaltig eine enorme Mittelschicht, deren Angehörige als Arbeiter in den Fabriken hohe Löhne erhielten.

Dann entfaltete sich der Prozess der Globalisierung, und eine von nationalen Grenzen und der Protektion der einheimischen Industrie befreite Weltwirtschaft wurde zur Tugend erklärt.

Unter der Präsidentschaft Ronald Reagans in den 1980er Jahren wurde Alexander Hamiltons 11-Punkte-Plan über Bord geworfen. Die Zölle wurden abgebaut. Und als Bill Clinton in den 1990er Jahren ins Weiße Haus einzog, setzte er Reagans Handelspolitik fort und verpflichtete die USA zu sogenannten Freihandelsabkommen wie GATT (1), NAFTA (2) und die Welthandelsorganisation WTO, wodurch sämtliche Dämme brachen, die die einheimische Industrie über zwei Jahrhunderte lang vor der ausländischen Konkurrenz geschützt hatten.

In der Präsidentschaftsdebatte im Jahr 1992 warnte der unabhängige Kandidat Ross Perot vor dem „gigantischen Sauggeräusch“, das die Verlagerung US-amerikanischer Jobs in Niedriglohnländer jenseits der südlichen Grenze auslösen würde. Perot hatte recht, aber niemand aus der US-Regierung wollte zuhören.

In den 1960er Jahren war einer von drei US-Amerikanern im produzierenden Gewerbe beschäftigt. Heute, nachdem die USA ein Freihandelsabkommen nach dem nächsten abgeschlossen haben, arbeitet nur noch jeder Zehnte im produzierenden Gewerbe.

Während des letzten Jahrzehnts wurden 5 000 Fabriken in den Vereinigten Staaten geschlossen und fünf Millionen Industrie-Jobs gingen verloren. Sie verschwanden aber nicht, sondern wurden in Niedriglohn-Fabriken ins Ausland, wie beispielsweise Foxconn, verlagert.

Bevor Reagan ins Weiße Haus einzog, waren die Vereinigten Staaten der größte Rohstoff-Importeur der Welt und zugleich der größte Exporteur von Industriegütern. Die USA waren zugleich auch der weltweit größte Kreditgeber. Aber heute ist das Land der Welt größter Exporteur von Rohstoffen und Importeur von Fertigwaren. Und, kaum überraschend, mittlerweile auch der größte Schuldner auf dem Globus. Wenn die Produktion stirbt, dann stirbt die Wirtschaft mit.

Schritt Zwei: Das „Abernten“ der Mittelschicht

Die US-Arbeiterklasse stellt nicht mehr Fernsehgeräte, Computer oder Möbel an Fließbändern her. Stattdessen wendet sie jetzt Hamburger bei McDonalds oder wechselt die Bettlaken in Hotels aus. Und die höher qualifizierten Kräfte entwerfen keine anspruchsvollen Produktionslinien mehr, sondern Credit Default Swaps und Hypotheken-gesicherte Wertpapiere für die Wall Street.

Als sich die US-Ökonomie in den 1950er Jahren noch an Hamiltons 11-Punkte-Plan orientierte, machte die Industrieproduktion ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes aus. Gegenwärtig ist dieser Anteil auf ein Zehntel geschrumpft, und wurde durch Niedriglohn-Dienstleistungen und den Finanzsektor ersetzt. Diese neue Art des Wirtschaftens ist nicht in der Lage, eine Mittelschicht nachhaltig zu tragen. Der Dienstleistungssektor kann keinen andauernden Wohlstand erzeugen, noch kann es die Wall Street.

Seit der Umsetzung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA im Jahr 2004 ist das Einkommen der arbeitenden US-Bevölkerung stetig gesunken. Zwischen 2007 und 2009 sank das Durchschnittseinkommen für Familien, in denen beide Elternteile arbeiten, um fünf Prozent. Für Familien mit nur einem arbeitenden Elternteil gar um 18 Prozent. Durchschnittlich gingen die Löhne in diesem Zeitraum um 6,6 Prozent zurück. (3)

Die arbeitende Bevölkerung reizte ihre Kreditkarten aus und nahm eine zweite Hypothek für ihre Wohnhäuser auf, nur um weiter über die Runden kommen zu können. Schließlich sollte auch das nicht mehr ausreichen.

Darüber hinaus ist eine neue Finanzindustrie entstanden, die sich darauf spezialisiert hat, von der Mittelschicht noch mehr Vermögen abzuziehen. Sogenannte Kapitalbeteiligungsgesellschaften (Private Equity) wie Bain Capital verfolgen ein Geschäftsmodell, das davon abhängt, die Kontrolle über die amerikanischen Unternehmen zu erlangen, welche dann mit Schulden belastet werden, Beschäftigte entlassen müssen und die Arbeit in Niedriglohnländer auslagern. Mitt Romney selbst bezeichnete Brains Strategie als das „profitable Abernten der Unternehmen“.

Sogar jene Fabriken, die profitabel wie nie zuvor waren, wie die Firma Sensata in Freeport, Illinois, sind vor der Auslagerung nicht gefeit. Dank der Globalisierung ist es einfach billiger, Arbeiter in Niedriglohnländern zu beschäftigen, auch wenn das bedeutet, 170 amerikanische Arbeiter entlassen zu müssen und eine ganze örtliche Wirtschaft zu ruinieren.

Heute leben über 50 Millionen US-Bürger in Armut und sind auf Lebensmittelmarken angewiesen. Die Mittelklasse ging in die Arbeiterklasse über, welche selbst zur Klasse der arbeitenden Armen („working poor“) wurde. Lokale Wirtschaften kollabieren, Bundesstaaten gehen Pleite, und die Arbeiter werden für ihre baldige Kolonialisierung weichgeklopft. 

Schritt Drei: Der Export des Vermögens

An dem Übergang vom weltgrößten Exporteur von Fertigwaren zu deren größtem Importeur klebt ein gepfeffertes Preisschild. Dieser Preis drückt sich im Handelsdefizit aus.

Im Jahr 2011 betrug das Handelsdefizit der USA gegenüber dem Rest der Welt über 780 Milliarden US-Dollar. Jährlich fließen rund 500 Milliarden US-Dollar in die sich entwickelnden Länder, die nun die Waren produzieren, die einst in den USA hergestellt wurden.

Mit ihren aus den Taschen quellenden US-Dollar begannen die ausländischen Investoren, die amerikanische Industrie aufzukaufen.

Früher wurde das in den USA produzierte Vermögen innerhalb der Gemeinden wiederverwertet. Die Einnahmen der ortsansässigen Lebensmittelgeschäfte wurden bei der örtlichen Bank angelegt, die die Gelder dann an die dortigen Unternehmen als Kredite zur Verfügung stellte. Diese konnten dadurch Arbeiter einstellen, die dann wiederum ihren Lohn im örtlichen Lebensmittelladen ausgaben, und so weiter und so fort.

Wenn aber ausländische Investoren in die Gleichung miteinbezogen werden, dann werden zunehmend größere Anteile des Vermögens nicht in der örtlichen Wirtschaft reinvestiert, sondern fließen ins Ausland ab.

Das ist einer der Gründe, warum Präsident Obamas Konjunkturpaket nicht den erhofften Erfolg brachte. Wenn die US-Amerikaner ihr Geld für neue LED-Fernseher, neue Kleidung oder Möbel ausgeben, dann geht mit hoher Wahrscheinlichkeit ein großer Teil der Profite zu den Investoren im Ausland und stimuliert die dortige Wirtschaft aber nicht die der USA.

Schritt Vier: Rekolonialisierung

Da die amerikanischen Arbeiter verzweifelt nach jedem möglichen Job suchen, haben ausländische Konzerne wie Foxconn nun Zugang zu einem ganz neuen Reservoir billiger Arbeit. Schon vor Foxconn zogen andere Unternehmen ihren Vorteil aus diesem neuen Niedriglohnsektor.

Ikea eröffnete vor kurzem eine Fabrik in Virginia, einem Bundesstaat, in dem gegenüber Gewerkschaften keine Gastfreundschaft herrscht. Im Heimatland Schweden bekommen Ikea-Arbeiter 19 US-Dollar die Stunde und erhalten mindestens fünf bezahlte Urlaubswochen pro Jahr. Das sind ziemlich hohe Arbeitskosten. Also ging das Unternehmen in die USA, wo es den Arbeitern gerade einmal acht Dollar pro Stunde und nur zwölf Urlaubstage pro Jahr zahlen muss.

Der deutsche Autobauer Volkswagen hat auch seine Vorteile erkannt und Teile seiner Produktion wieder zurück in die Vereinigten Staaten verlegt. Kürzlich eröffnete der Konzern ein Werk in Chattanooga, Tennessee. Ebenfalls ein gewerkschaftsfeindlicher Staat. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Arbeiter in den großen Unternehmen einer Gewerkschaft angehören, hohe Löhne erhalten, streiken können und einen Platz im Vorstand innehaben und somit über die Zukunft des Unternehmens ein Wörtchen mitzureden haben, gibt es all das in Chattanooga nicht.

Dort gehören die Arbeiter keiner Gewerkschaft an und erhalten nur 14,50 US-Dollar die Stunde. Es ist ziemlich offensichtlich: Die USA werden der Welt neueste Quelle für billige Arbeitskräfte. 

Außerdem ist es viel günstiger, wenn die Waren für den amerikanischen Konsumenten nicht vorher um den halben Globus geschickt werden müssen. Zudem  wären die ausländischen Konzerne erfreut darüber, ihre Produkte mit einem „Made in the USA“-Stempel versehen zu können.

Deshalb überlegen Konzerne wie Foxconn, in die USA zu gehen. Es ist schwer vorstellbar, dass amerikanische Arbeiter dieselben Arbeitsbedingungen ertragen müssen wie ihre chinesischen Kollegen bei Foxconn, die mit Sicherheitsnetzen vom Selbstmord abgehalten werden sollen.

Aber angesichts der Agenda, die die Republikaner im Repräsentantenhaus verfolgen, (wo sie die Mehrheit der Sitze halten, Anm. Red.), liegt eine solche Vorstellung nicht so fern von der Realität. Arbeitsgesetze, die seit Generationen bestehen, wie die Regelungen über den Mindestlohn, die 40-Stunden-Woche, Sicherheit am Arbeitsplatz oder Kinderarbeit, sie alle geraten unter Beschuss durch die Republikaner im Kongress. Und wenn diese sich durchsetzen, dann gibt es absolut nichts, was die amerikanischen Arbeiter vor einen Schicksal bewahrt, wie es diejenigen ereilt hat, die in den Ausbeuterbetrieben („sweatshops“) im Ausland arbeiten müssen.  

Warum es sich bei der vierten Phase um das Endstadium handelt, liegt daran, dass nur noch wenige Verfahrensoptionen übrig bleiben. Wenn die Vereinigten Staaten ihre Handelspolitik plötzlich überdenken und wieder Zölle einführen würden, hätte das nur eine geringe Auswirkung, da die ausländischen Konzerne bereits ihre Produktionsstätten in den USA errichtet haben. Die Profite flössen weiterhin ins Ausland statt in die lokale Wirtschaft.

Vielleicht lassen sich damit wieder viele der Jobs schaffen, die in Phase Eins verloren gegangen sind. Aber es wird sich dann nicht um gutbezahlte Stellen handeln. Sondern um Niedriglohn-Jobs ausländischer Unternehmen, und der ganze daraus resultierende Profit verbleibt nicht in der USA. Im Kern ist das eine Form der Kolonisation.

Die Vereinigten Staaten entwickeln sich auf eine Art zurück, wie sie in der Weltgeschichte beispiellos ist. Man könnte es als ein außergewöhnliches Spektakel betrachten, wenn es für die Bevölkerung nicht so tragisch wäre.

Es wird Zeit, die Repräsentanten in den USA daran zu erinnern, dass Ross Perot recht hatte und diesen sogenannten „Freihandels“-Wahnsinn zu beenden.